Den Realismus besiegt



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Tageszeitung junge Welt
18.03.2014 / Feuilleton / Seite 12

Den Realismus besiegt

Immer noch eine Provokation: 2500 Jahre alte Tonfiguren aus Nigeria im Liebieghaus in Frankfurt am Main

Von Sabine Matthes
Zwischen Ahnenkult und Schamanismus: eine Nok-Skulptur
Foto: Goethe-Universität Frankfurt, Institut für Archäologische Wissenschaften, Archäologie und Archäobotanik Afrikas











Am 29. März 2006 verdunkelte eine Sonnenfinsternis den Himmel über Zentral-Nigeria. In Janjala wurde ein großer weißer Hahn geschlachtet und mit vier Federn die nächste Ausgrabungsstelle abgesteckt. Die Arbeiter, die das Archäologenteam der Goethe-Universität Frankfurt am Main um Peter Breunig für Ausgrabungen rekrutiert hatte, hielten dieses Opfer für angebracht. Denn es gab einen außergewöhnlichen Fund zu feiern: drei Terrakottateile, die sich zu einer 42 Zentimeter hohen weiblichen Stabterrakotta zusammenfügten, bis heute die einzig vollständige Nok-Figur.

Der Fundort war zwei Autostunden von dem kleinen Dorf Nok entfernt. In dessen Nähe wurden 1929, als die Briten in ihrer damaligen Kolonie Nigeria nach Zinn schürften, die ersten Bruchstücke von Tonfiguren gefunden. Aus einem Areal so groß wie Portugal trug der britische Archäologe Bernard Fagg bis 1970 eine Sammlung aus etwa 150 Fragmenten von Skulpturen zusammen. Er erkannte deren stilistische Einheitlichkeit und gab der Kultur den Namen Nok. Konnten die Funde aus dem ersten Jahrtausend vor unserer Zeit stammen? Außerdem entdeckte er Nok-Fragmente bei ausgegrabenen Eisenverhüttungsöfen. Damit wäre die Nok-Kultur nicht nur die früheste Skulpturentradition in Afrika südlich der Sahara, sondern hätte auch einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung der Metallurgie.

Das spektakulär hohe Alter einer so entwickelten Figuralkunst und anspruchsvollen Technologie, die sich in Westafrika eigenständig und abgeschieden von den antiken Kulturzentren des Mittelmeerraums entwickelt haben soll, löste in den 1950er Jahren heftige Diskussionen aus. Sollte Karthago als mythische Ursprungsstadt entthront werden? So ist die faszinierende Ausstellung »Nok. Ein Ursprung afrikanischer Skulptur« in der Frankfurter Liebieghaus Skulpturensammlung immer noch eine Provokation.

Über 100 Skulpturen und Fragmente der Nok, die die Archäologen der Goethe-Universität Frankfurt in den vergangenen acht Jahren an über 200 Grabungsstellen geborgen haben, werden erstmals, sozusagen im Dialog mit rund 60 zeitgleich entstandenen Werken der altägyptischen und griechisch-römischen Antike, gezeigt. Sie stehlen diesen eindeutig die Show. Denn in der Konfrontation spürt man sofort die elektrisierende Wucht künstlerischer Kraft, die schon Pablo Picasso oder Ernst Ludwig Kirchner in der indigenen Kunst Ozeaniens und Afrikas so derart anzog, daß sie sich gelangweilt von den Klassizismen der Kunstakademien abwandten. Damit illustriert die Ausstellung auch den großen ästhetischen Konflikt der klassischen Moderne, wo die expressive, abstrakte Formenwelt afrikanischer Plastiken über den Realismus der europäischen Antike gesiegt hat.

Aus ihren markanten, ausdrucksstarken, überportional großen, dreieckigen Nok-Augen mit der ausgestochenen Iris blicken uns die rot-braunen Terrakotten an. Menschen, Tiere und Mischwesen. Wie unheilvolle Propheten aus einer bizarren, archaischen Science-Fiction-Welt voller Magie und Mutationen. Stolz und prächtig geschmückt, mit extravaganten Frisuren, Narbenverzierungen und eingeklemmten Schlangen unter dem Arm.

Die Deponierung der zerschlagenen Figuren deutet auf eine rituelle Entsorgung hin, um Gefahr abzuwenden, die von ihnen auszugehen drohte. Die ostafrikanischen Masai glaubten an das Weiterleben reicher Menschen und Heiler in Gestalt von Schlangen, die sie mit Milch fütterten, wenn sie von ihnen in ihren Hütten besucht wurden. Schlangen und Echsen gehören zu den häufigsten Tieren unter den Nok-Skulpturen. Sie wurden in vielen traditionellen Gemeinschaften Afrikas als Zeugungshelfer oder verwandelte Ahnen verehrt, gefüttert und bildlich dargestellt. Schlangen können ihre Haut abstreifen, was als Zeichen der Unsterblichkeit gilt, sie sind mit der Erde verbunden und teilen sich ihr unterirdisches Reich mit den Ahnen.

Die Nok waren wohl Grenzgänger, zwischen der Welt der Lebenden und der Toten (Ahnenkult) und der der Tiere und Menschen (Schamanismus). Da die Nok-Kultur schriftlos war, bleibt uns nur eine hypothetische Deutung ihrer Skulpturen zwischen Ahnenkult und Schamanismus, als gewissermaßen in Ton eingebranntes Denken.

In Nigeria müssen die Archäologen des Frankfurter Nok-Projekts im Wettlauf gegen versierte Plünderer graben, auf deren Hilfe sie allerdings angewiesen sind, um überhaupt an Fundstellen zu kommen. Die Plünderungen erfolgen im großen Stil und befriedigen die Märkte für Altertümer in den westlichen und asiatischen Industrieländern. Dieser negative Einfluß des Kunstmarktes ist auch eine Folge der Wertschätzung, die die sogenannte art primitive durch europäische Künstler wie Picasso einst erfahren hatte.
Bis 23.3., Liebieghaus, Schaumainkai 71, Frankfurt am Main,