Aus: Ausgabe vom 17.08.2015, Seite 11 / Feuilleton
Lenin, mit oder ohne Hörner
Eine Hamburger »Tattoo«-Ausstellung beschäftigt sich auch mit den Motiven sowjetischer Strafgefangener
Von Sabine Matthes
Unbekannte mit Tattoos von Maud Stevens Wagner (USA, 1877-1961)
Foto: mkg-hamburg.de/Unbekannt/Maud Stevens Wagner/Tattoo Artist/USA/1877-1961
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Tätowierte gehörten zu den Lieblingsmotiven der amerikanischen Fotografin Diane Arbus. »Das geheime Ritual faszinierte sie, da es eine Mischung aus traditioneller Kunst, physischem Schmerz und Sinnlichkeit war«, schrieb ihre Biographin Patricia Bosworth. Genau diese voyeuristische Faszination erfasst einen in der Hamburger »Tattoo«-Ausstellung. Es ist ein großartiges Panoptikum, in dem mehr als 250 Arbeiten – dokumentarische und künstlerische Fotos, Farbholzschnitte, Skulpturen, Videoarbeiten, historische Hautpräparate und Tätowiergeräte – die schillernde Ambivalenz von Tattoos in verschiedenen Kulturen, Epochen und sozialen Schichten zeigen.
Als der Entdecker James Cook 1774 von einer Reise in die Südsee zurückkam, brachte er nicht nur einen tätowierten Einheimischen namens Omai mit nach London, um ihn öffentlich zur Schau zu stellen. Er führte auch ein Wort ein, das dessen seltsame Hautzeichnungen benannte: »Tatau«, aus den polynesischen Wörtern »ta« – »schlagen«, und »tau« – »Zeichen, Muster, Bilder« zusammengesetzt. Die Begegnung von Polynesiern und Europäern war besonders auf Tahiti von wechselseitiger Neugier und einer Idealisierung des Exotischen geprägt. Während die Polynesier Schlange standen, um sich an Deck der Schiffe rasieren zu lassen, ließen sich Captain Cooks Matrosen von den Einheimischen tätowieren. Neben der alten Tattootradition mediterraner Matrosen, die den Hautschnitt durch das Verbrennen von Schießpulver ins Werk setzten, lernten sie dort eine neue Technik kennen. Diese exportierten sie mit ihren Tattoosouvenirs in andere Hafenstädte.
Euphorisiert vom Duft der Reiseberichte aus dem fernen Garten Eden, konnte man durch eine Tätowierung am Südseeboom teilhaben und eine »Aktie auf das irdische Paradies« erwerben. Zwischen 1850 und 1910 erfasste die »Tätowierungswut« auch den europäischen Adel. Kaiserin »Sisi« ließ sich 1888 in einer Hafenkneipe einen Anker auf die Schulter tätowieren, und Königin Victoria von England soll an intimen Stellen ihres Körpers einen Tiger und eine Python getragen haben. Andererseits verbreiteten sich die Tattoos im zwielichtigen Hafenmilieu unter Matrosen, Prostituierten, Schaustellern und Kriminellen. Diese Unbehausten besaßen oft wenig mehr als ihren eigenen Körper. Den aber konnten sie durch Tattoos mit Erinnerungen adeln und mit Sehnsüchten dekorieren.
In seinem 1876 erschienenen »L’Uomo delinquente« vertrat der italienische Kriminalanthroploge Cesare Lombroso die These, dass der »geborene Verbrecher« einen Hang zum Primitiven hätte. Und weil nur Primitive tätowiert seien, seien Tätowierte die geborenen Verbrecher. In seiner Hierarchie standen die zivilisierten Bürger mit weißer, untätowierter Haut ganz oben, Farbige, »Wilde« und Tätowierte ganz unten. Mit seinem radikalen ästhetischen Purismus urteilte der österreichische Architekt und Kunsttheoretiker Adolf Loos in »Ornament und Verbrechen«, 1910, ähnlich: »Der moderne Mensch, der sich tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter.« Als Folge dieser Stigmatisierung setzten die Outlaws ihrer sozialen Exklusion eine eigene Exklusivität entgegen. In den Gefängnissen wurde Tätowierung zum subversiven Akt, die nackte Haut ein Ort des Widerstands. Das Tattoo zum Beweis eines freien Geistes in einem gefangenen Körper.
Die Tattoos sowjetischer Strafgefangener sind ein besonderes Phänomen. In die Haut geritzt und eingefärbt mit dem Gummi verbrannter Schuhabsätze und Urin, enthielten sie eine Reihe codierter Botschaften gegen das Sowjetregime und über die individuellen Verbrechen des Gefangenen. Traditionelle Motive bekamen im Bildrepertoire der kriminellen Unterwelt neue Bedeutungen. Der doppelköpfige Adler als russisches Wappentier wurde während des Kommunismus durch Hammer und Sichel ersetzt.
Ein Foto von Arkady Bronnikov zeigt das Motiv, quer über die Brust tätowiert. Es sollte als Zeichen des Hasses auf die UdSSR, oder als nationalistisches, rassistisches Symbol im Sinne von »Russland den Russen« gelten. Die Anzahl der Kirchenkuppeln und Kreuze steht für die in Haft verbrachten Jahre. Zeitweise waren Stalin und Lenin in Mode, mit und ohne Hörner. Oder sie wurden auf die Brust tätowiert, in der Hoffnung, dass es den Erschießungskommandos verboten sei, auf Abbilder der Gründerväter zu schießen. Sogenannte Ring-Tätowierungen um die Finger sind ein komplexes Zeichensystem über die Biographie des Täters. Arkady Bronnikov, früher ein leitender Forensiker des UdSSR-Innenministeriums, besuchte viele Arbeitslager im Ural und in Sibirien. Mitte der 1960er bis Mitte der 1980er Jahre machte er Tausende Fotos und Interviews mit tätowierten Gefangenen. Mit seinem riesigen Archiv half er, Kriminalfälle zu lösen und Täter und Leichen zu identifizieren. Als Russlands führender Experte für Tattooikonographie kann er die Geschichte eines Gefangenen allein aus seinen Tattoos ablesen.
»Tattoo«. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, Steintorplatz 1, noch bis 6. September